Das virtuelle Atelier von Tanja Soler Zang

Was ist eigentlich Kunst?

  • Und wer ist eigentlich ein Künstler?
  • Worin liegt die Motivation eines Künstlers Kunst zu "schaffen"?

Künstler sagen, dass sie "etwas Wesentliches einfangen" wollen. Sie möchten "etwas abbilden", das andere so nie sehen würde, das "für den Künstler aber offensichtlich ist". Was ist dieses "etwas"?

Ich glaube, dass wir dem Geheimnis von Kunst nur dann auf die Spur kommen, wenn wir genau hinsehen und überlegen, was Kunst im Kern wirklich ist: Wie können wir "Kunst" definieren?

Das Wort "Kunst" kommt in unserer Sprache oft vor, vielleicht gibt es Auskunft über das, was Kunst ist:

  • Wenn ein Arzt ein Kunstfehler macht, ist es dann Kunst?
  • Wenn man künstliche Zähne hat, ist man dann Künstler?
  • Ist der Kunstdünger streuende Gärtner ein Künstler?
  • Sind die Verführungskünste Kunst?

Ja, diese Beispiele zeigen, dass das Wort Kunst inflationär für alles Mögliche herhalten muss. Das scheint frustrierend zu sein. Offenbar kann uns der Alltagsgebrauch nicht sagen, was wirklich Kunst ist.

Was zeichnet denn eine Frida Kahlo oder einen Salvador Dali aus? Warum gestehen wir denen zu, Künstler zu sein?

Kunstdefinition

Was haben Kunstwerke gemeinsam? Welche Intention hatte der Künstler?

  • Wollte er damit ein praktisches Alltagsproblem lösen? Antwort: Wohl nein.
  • Wollte er damit endlich Wohlstand erlangen? Antwort: Wohl nein.
  • Wollte er damit Ansehen erlangen? Antwort: Wohl nein.

Das Gemeinsame, Besondere ist: All den Kunstwerken wohnt ein besonderer, innerer, manchmal verständlicher, manchmal für andere unverständlicher Ausdruck inne. Es ist ein Ausdruck von Gefühlen, Ansichten, Aspekten, die der Künstler intensiv spürt, die aus seinem Innersten strömen und die er durch sein Kunstwerk darstellen möchte. Von diesem "Ausdruck" ausgehend lautet die Definition von Kunst:

Kunst ist der genuine Ausdruck eines Menschen durch ein bewusst geschaffenes Werk oder innerhalb eines bewussten Prozesses. "Genuin" bedeutet echt, wahr, wirklich, aufrichtig, ehrlich, "aus sich selbst heraus".

Das Pikante an dieser Definition ist, dass sie – wenn wir genauer hinsehen – das Wesen von Kunst enthüllt. Denn der Terminus "genuiner Ausdruck" impliziert drei wichtige Eigenschaften, die alle Kunstwerke gemeinsam haben. Die erste ist:

1. Kunst ist nicht zweckgerichtet

Kunst dient keinem praktischen Zweck! Sie löst keine Alltagsprobleme, sie hilft nicht im Haushalt - und sie ist – von ihrer Intention her – finanziell unergiebig. Sie wird nicht geschaffen, um gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen.

Denn nur, wenn sie keinem Zweck unterliegt, kann sie "genuiner Ausdruck des Künstlers" sein.

Denn wenn der Künstler beim Erschaffen des Kunstwerks den möglichen Verkaufspreis im Kopf hat – oder wenn er beim Erschaffen die Anerkennung der Kollegen oder der Presse visualisiert – dann wird er keinen eigenen genuinen Ausdruck mehr zustande bringen. In diesem Fall wird er bestrebt sein, die Erwartungen anderer zu erfüllen und sein Werk mutiert mehr und mehr zu einer "Auftragsarbeit": Es wird erstellt im Auftrag der Brieftasche – oder in Erwartung eitler Anerkennung.

Picasso sagte in einer Rede am 2.Mai 1952 in Madrid: "Durch die Gefälligkeitsmalerei für Reiche und Nichtstuer habe ich mich schnell berühmt gemacht. Und der Ruhm bedeutet für den Künstler: Verkauf, Vermögen, Reichtum. Ich bin heute nicht nur berühmt, sondern auch reich. Wenn ich aber allein mit mir bin, kann ich mich nicht als Künstler betrachten im großen Sinne des Wortes. Große Maler waren Giotto, Tizian, Rembrandt und Goya. Ich bin nur ein Spaßmacher, der seine Zeit verstanden hat und alles, was er konnte, herausgeholt hat – aus der Dummheit, der Lüsternheit und Eitelkeit seiner Zeitgenossen."

Wenn Kunst ein "genuiner bewusster Ausdruck" des Künstlers ist, dann existiert sie unabhängig von gesellschaftlicher Anerkennung oder Reputation des Künstlers. Dann ist jeder Mensch ein Künstler, sobald er aus seinen innersten Gefühlen heraus bewusst ein Werk erschafft.

Die zweite Eigenschaft, die in der Kunstdefinition steckt ist:

2. Kunst ist nicht bewertbar

Genauso wie man den Wert eines Menschen nicht quantifizieren kann, kann man den Wert eines Kunstwerkes nicht quantifizieren. Der Respekt vor dem Kunstwerk gebietet es, dieses nicht in Vergleich oder Bewertung zu stellen.

Wir wissen allerdings, dass es in der realen Alltagswelt ganz anderes ist: Jeder Mensch wird in der Alltagswelt bewusst oder unbewusst eingeordnet nach gesellschaftlichem Status, nach Beruf, Einkommen, Bildung und Auftreten. Und auch ein Kunstwerk wird in der realen Alltagswelt bewertet, und zwar nach Bekanntheit des Künstlers und nach seinem Preis auf dem Kunstmarkt. Wir selbst tun das – bewusst oder unbewusst.

In der Kunstgeschichte wurden viele Werke im Rahmen einer bestimmten Theorie-, Denk- oder Sammel-Mode degradiert. Die Überheblichkeit der sogenannten Deutungskompetenz, welche Kunstwerke in Geiselhaft nimmt und den Marktbewertungen unterwirft, steht in diametralen Gegensatz zur Essenz dessen, was Kunst ist.

Das ist die spezielle Ambivalenz, der jedes Kunstwerk unterliegt: Einerseits wird einem Kunstwerk oft ein Preis in Euro zugeordnet, andererseits wissen und fühlen wir, dass einem Kunstwerk als genuiner Ausdruck des Künstlers keine Maßzahl als Wert zugeordnet werden kann.

Jedes Kunstwerk ist in seiner "Kunsteigenschaft" einzigartig, und repräsentiert als solches einen inneren, unquantifizierbaren Wert. Aus dieser Sicht sind Kunstwerke unvergleichbare Werke.

Diesen Sachverhalt drückt Peter Buck der Band REM so aus: "We had hit singles, platinum albums, we were on the covers of all kinds of unlikely magazines, and, at least for a couple of years, were one of the biggest bands in the world. All of which is irrelevant." Weltweiter Kommerzieller Erfolg und allgegenwärtige Medienbeachtung – zu dieser großen "Positiv-Bewertung" sagt Peter Buck: "All of which is irrelevant".

Es ist irrelevant, weil sich eben Kunst jeder Bewertung entzieht – jeder Bewertung durch Kunstkritiker, Marktmechanismen oder sonst irgendwelche Institutionen.

Der dritte Aspekt, der sich unmittelbar aus der Definition ableitet, lautet:

3. Kunst ist Freiheit

Kunst steht in einem diametralen Kontrast zur durchökonomisierten und effizienzzentrierten Industriegesellschaft. Während sich fast alle Menschen dem Primat der Funktionalität in der Arbeitswelt unterordnen, steht Kunst für die davon unabhängige, freie Entfaltung als Individuum.

So erklärt sich, was Beuys mit dem Ausspruch "Kunst bedeutet Menschsein" meinte: Erst mit Hilfe der Kunst kann sich der Mensch wirklich frei ausdrücken, kann er seine Einzigartigkeit leben, kann er "Mensch" sein.

Hermann Hesse sagte es noch drastischer: "Der Künstler stellt innerhalb unserer Gesellschaft eigentlich den einzigen Menschentypen dar, welcher unbekümmert und unter weitgehender Duldung durch die Gesellschaft sich selber lebt, seiner eigenen Natur treu ist und so ein Gebot erfüllt, das jedem Menschen ins Herz geschrieben ist, dessen Ruf aber für die meisten im trüben Kampf um das Tägliche erstickt."

  • Während also Konjunktur und Wirtschaftswachstum überwiegend im Fokus stehen,
  • während fast jeder der Optimierung von Produktions- und Arbeitsabläufen hinterher hechelt,
  • während der finanzielle Status für fast jeden Menschen an oberster Stelle erstrebenswerter Ziele steht,

lebt der Künstler in einem denkwürdigen Kontrast dazu: Er stößt für sich eine Tür zur persönlichen Freiheit auf, eröffnet sich ein eigenes, kreatives Spielfeld und bringt in ureigener und unabhängiger Kreativität sich selbst zum Ausdruck.

Zusammenfassung

Kunst als "genuiner Ausdruck" ist:

1. nicht zweckgerichtet

2. entzieht sich als Kunst jeder Bewertung

3. bedeutet individuelle Freiheit

Und genau diese Eigenschaften sind es, die für mich Kunst zu etwas ganz Besonderem, Wertvollen machen.

Ich finde es erhebend, sich dessen bewusst zu sein, dass Kunst als genuiner Ausdruck gleichzeitig Ausdruck individueller Freiheit ist.

Auszug aus der Eröffnungsrede "Blickkontakte"

von Andy Enroe

Tanja Soler Zang  ·  art at solza.de